Polyphasischer Schlaf: Effektiv oder riskant?
Rund ein Drittel unseres Lebens verbringen wir im Schlaf: Angesichts einer Lebenserwartung von im Schnitt etwa 80 Jahren summieren sich die „verpennten“ Stunden somit zu über 26 Jahren. Den meisten Menschen entlockt diese Erkenntnis vermutlich nur ein müdes Gähnen, bevor sie abends erneut mehr oder weniger entspannt in ihre Kissen sinken.
Einige Leute rechnen jedoch hellwach nach. Sie fragen sich: Könnte ich auch mit weniger Schlaf auskommen und die gewonnene Zeit produktiver nutzen? Beispielsweise, indem ich die lange nächtliche Ruhephase über den ganzen Tag verteilt splitte, um anhaltend aufgeweckter zu sein? Verfechter des sogenannten polyphasischen (mehrphasigen) Schlafs meinen: Das geht! Sie glauben, dass mehrmalige kurze Nickerchen pro Tag statt eines langen Nachtschlafs unsere Produktivität und Konzentration steigern können. Aber stimmt das auch?
Richtig zur Ruhe kommen: Schlafgewohnheiten im Vergleich
Wissenschaftler unterscheiden drei grundsätzliche Schlafmuster:
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Monophasischer Schlaf wird in westlichen Kulturen von den meisten Erwachsenen praktiziert: Sie bleiben tagsüber etwa 15 bis 18 Stunden wach und gönnen sich nachts im Schnitt zwischen 6 bis 9 Stunden Ruhe.
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Biphasischer Schlaf ist bei Kindern vor der Einschulung, älteren Menschen und in südlichen Ländern sehr verbreitet. Hier gesellt sich zum langen Nacht- noch ein kürzerer Mittagsschlaf (auch als Siesta oder Powernap (nap = Nickerchen) bekannt).
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Polyphasischer Schlaf (Intervallschlaf) ist typisch für Säuglinge: Mehrere Schlafphasen verteilen sich über Tag und Nacht.
Das polyphasische Schlafmuster wird heute auch von Erwachsenen genutzt, die außergewöhnlich viel leisten möchten oder müssen, etwa im Extremsport oder vor Prüfungen. Es gibt viele verschiedene Konzepte, von relativ freien bis hin zu sehr strikten. Drei der bekannteren, die die Gesamtschlafdauer deutlich reduzieren:
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Der Jedermann-Schlaf kombiniert eine nächtliche Schlafphase (mindestens eineinhalb, höchstens viereinhalb Stunden) mit zwei bis fünf maximal 20-minütigen Nickerchen am Tag. Je nach Anwendung werden zwischen 2,8 und 5,2 Stunden Gesamtschlaf pro Tag angestrebt.
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Beim Schlafmuster Dymaxion (der Begriff steht für „dynamische maximale Spannung“) ruht man im Abstand von sechs Stunden viermal pro Tag 30 Minuten. Insgesamt ergeben sich damit innerhalb von 24 Stunden lediglich zwei Stunden Schlaf.
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Mit der Uberman-Strategie („Übermensch-Schlaf“) werden ebenfalls nur zwei Stunden Gesamtruhezeit erzielt. Man gönnt sich alle 4 Stunden einen 20-minütigen Powernap.
Deutlich moderater scheint da schon das polyphasische Konzept zu sein, das Fußballstar Cristiano Ronaldo praktizieren soll: Angeblich schläft er innerhalb von 24 Stunden fünfmal für 90 Minuten und fühlt sich damit topfit.
Nächtliche Erholung: Die fünf Schlafphasen
Meist zielen polyphasische Schlafstrategien darauf ab, möglichst viele sogenannte REM-Phasen mit möglichst wenig Schlaf zu erreichen. Denn der REM- oder Traumschlaf, sein Name leitet sich vom englischen „rapid eye movement“ (schnelle Augenbewegungen) ab, ist für unsere geistige Erholung besonders wichtig. In seinen Genuss kommen wir im Laufe der üblichen etwa 8-stündigen Nachtruhe gleich mehrmals: Sie gliedert sich nämlich in mehrere Zyklen aus fünf aufeinander folgenden Schlafphasen:
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Einschlafen: Innerhalb von ungefähr zehn Minuten fallen wir in einen tranceähnlichen Zustand, in dem die Hirnströme sich verlangsamen.
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Leichtschlaf: Die Bewegungen des Körpers lassen nach. Unsere Atmung wird ruhiger, vertieft sich. In diesem Zustand sind wir noch leicht weckbar.
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Moderater Tiefschlaf: Wir entspannen zunehmend, die Hirnaktivität nimmt weiter ab.
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Tiefschlaf: Hier handelt es sich um eine eher traumlose, aber sehr erholsame Phase von ungefähr 30 bis 40 Minuten, aus der wir nur schwer herausgerissen werden können. Im Tiefschlaf regenerieren unsere Zellen intensiv.
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Traumschlaf: Er hält etwa 10 bis 30 Minuten an. In dieser Phase haben wir die meisten und intensivsten Träume. Wir verarbeiten Erlebtes und unsere Gefühle, ordnen neu gewonnene Eindrücke ein. Die Augäpfel bewegen sich währenddessen schnell unter den Lidern. Wir atmen vermehrt, Herzfrequenz und Blutdruck steigen allmählich wieder an.
Aufgeweckt analysiert: Negative Effekte auf Körper und Geist
Normalerweise dauert ein Schlafzyklus, in dem alle fünf Schlafphasen durchlaufen werden, etwa 90 Minuten. Wer eine strikte polyphasische Schlafstrategie verfolgt und leistungsfähig bleiben will, müsste die einzelnen Schlafphasen folglich in vielen Fällen in deutlich kürzerer Zeit als üblich durchlaufen. Im Internet findet man dazu einige Selbstversuche. Häufig führten diese allerdings zu eher ernüchternden Resultaten. Etliche Teilnehmer fühlten sich wie gerädert statt gut erholt. Die meisten Schlafforscherinnen und Schlafforscher wundert das nicht. Denn unser Körper wurde entwicklungsgeschichtlich quasi auf eine längere Ruhephase in der Nacht programmiert. Daneben ist eine ausgedehntere Schlafphase erholsamer als viele kurze.
Auch eine große aktuelle Übersichtsarbeit, die 22 Studien analysierte, fand keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass polyphasischer Schlaf den Anwendern Vorteile bietet. Ganz im Gegenteil: Strategien, die die Schlafdauer erheblich reduzierten und/oder die Gesamtruhezeit in viele kurze Episoden fragmentierten, konnten sogar zu negativen Reaktionen wie größerer Müdigkeit, geringerer Gedächtnisleistung, erhöhter Reizbarkeit, depressiven Symptomen und einer geringeren Leistungsfähigkeit führen.
Echt entspannt: Wie Sie locker im Reich der Träume landen
Die meisten Fachleute raten gesunden Erwachsenen, nachts zwischen 7 und 9 Stunden am Stück zu schlafen. Wenn Sie etwas kürzer oder länger ruhen, morgens aber erholt aufwachen und tagsüber topfit sind, ist das jedoch auch völlig okay.
Diese Tipps können Ihnen helfen, relaxt in den Schlaf zu finden:
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Halten Sie möglichst einen festen Schlaf-Wach-Rhythmus ein, indem Sie morgens stets zur gleichen Zeit aufstehen und abends zu Bett gehen. Beachten Sie dabei aber bitte, dass Sie sich erst schlafen legen sollten, wenn Sie wirklich müde sind. Testen Sie bei zusätzlichem Erholungsbedarf am Tag, ob Ihnen eine kurze Siesta (circa 15 Minuten) am Mittag guttut.
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Setzen Sie abends auf leichtes Essen. Die letzte Mahlzeit sollte zudem höchstens zwei, besser vier Stunden vor der Nachtruhe verzehrt werden.
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Verzichten Sie ab dem Nachmittag auf koffeinhaltige Getränke. Es sei denn, sie haben einen zu niedrigen Blutdruck. Dann kann etwas Koffein am Abend möglicherweise schlaffördernd wirken.
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Schalten Sie am späteren Abend bewusst ab. Schreiben Sie sich beispielsweise Belastendes von der Seele, um damit nachts nicht das Grübel-Karussel anzutreiben. Zudem können ein kleiner Spaziergang, eine Einschlafmeditation, Musikhören, Lesen oder ein warmes Bad (es sollte zwei Stunden vor dem Schlafengehen beendet sein) helfen, den Kopf freizukriegen.
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US-Forscher haben in einer Studie herausgefunden, dass man ebenfalls früher in den Schlummer finden kann, wenn man fünf Minuten vorm Zu-Bett-Gehen eine To-do-Liste erstellt – mit allem, was in den nächsten paar Tagen erledigt werden soll. Je ausführlicher, desto besser. So muss sich Ihr Kopf-Kino nachts nicht mehr mit den anstehenden Aufgaben beschäftigen.
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Auch ein positiver Blick zurück kann sich lohnen: Notieren Sie sich drei Dinge, für die Sie am Tag dankbar waren, bevor Sie in die Federn sinken. Oder pflegen Sie persönliche Einschlafrituale, zum Beispiel sich vorher eincremen, die Kissen aufschütteln, ein Glas warme Milch mit Honig trinken.
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In Ihrem Schlafzimmer sollte es kühl (16 bis 18 Grad), ruhig und nachts völlig dunkel sein. Damit der Körper sich schon beim Eintreten auf Erholung einstellen kann, verbannen Sie Fernseher, PC, Smartphone und alles, was nach Arbeit aussieht, im Idealfall generell aus dem Raum.
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Schielen Sie nachts nicht nach dem Wecker, denn das hält wach. Sollten Sie mal aus dem Schlaf hochschrecken, gilt: einfach umdrehen und weiterschlummern. Wenn Sie länger wachliegen, stehen Sie am besten auf und machen etwas Monotones und Beruhigendes wie Lesen oder Bügeln. Legen Sie sich erst wieder hin, wenn Sie müde sind.
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Leiden Sie anhaltend unter Schlafstörungen? Dann lassen Sie deren Ursache besser von einer Ärztin oder einem Arzt abklären. Mehr zu diesem Thema finden Sie hier.
Quellen
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https://www.uni-ulm.de/fileadmin/website_uni_ulm/hssbgm/Newsletter_Schlaf_Juni2021.pdf
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www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4918987/pdf/jcsm.12.7.1041.pdf
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www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2352721821000309
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is.muni.cz/th/363896/fss_b/Tomas-Votruba-Psychological-Impacts-of-Polyphasic-Sleep.pdf
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www.zdf.de/gesellschaft/volle-kanne/polyphasischer-schlaf-teil-drei-100.html
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www.mdr.de/wissen/erfahrungsbericht-everyman-sleep-100.html
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www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S2352721815000157
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Prof. Dr. Jürgen Zulley. Mein Buch vom guten Schlaf. Verlag Zabert Sandmann, 2010
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Dr. med. Martin Schlott. Erfolgsfaktor Schlaf. Ariston Verlag, 2021
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Dr. med. Christoph Schöbel, Dr. med. Alfred Wiater. Ticken Sie richtig? Scorpio Verlag, 2021